Kraniomandibuläre Dysfunktion (Craniomandibuläre Dysfunktion, CMD) ist ein Überbegriff für strukturelle, funktionelle, biochemische und psychische Fehlregulationen der Muskel- oder Kiefergelenkfunktion. Diese Fehlregulationen können schmerzhaft sein, müssen es aber nicht. Im engeren Sinne handelt es sich dabei um Schmerzen der Kaumuskulatur („myofaszialer Schmerz“), Verlagerungen der Knorpelscheibe im Kiefergelenk („Diskusverlagerung“) und entzündliche oder degenerative Veränderungen des Kiefergelenks („Arthralgie, Arthritis, Arthrose“).
Terminologie
In Deutschland hat sich der Begriff Kraniomandibuläre Dysfunktion eingebürgert, ein Sammelname für diverse muskuloskelettale Beschwerden im Craniomandibulärsystem (Kausystem), daneben auch Cranio-Vertebrale Dysfunktion (CVD). In der Schweiz wird der Begriff Myoarthropathie bevorzugt, im englischen Sprachraum Temporomandibular Disorders oder temporo-mandibular-Joint-Disease (TMDs, TMJ). Die alte Bezeichnung (Costen-Syndrom) ist überholt. Hauptansprechpartner bei diesem Beschwerdebild ist der Zahnarzt, betroffen sind aber viele medizinische Fachrichtungen.
Klassifikationssysteme
Es gibt verschiedene Klassifikationssysteme, wobei international die Research Diagnostic Criteria for Temporomandibular Disorders (RDC/TMD) aus dem Jahre 1992 die größte internationale Verbreitung gefunden haben. Demnach unterscheidet man folgende zwei Bereiche („Achsen“)
Epidemiologie
Die Häufigkeit der CMD liegt bei etwa 8 % der gesamten Bevölkerung, wobei nur rund 3 % wegen dieser Beschwerden behandlungsbedürftig sind. Im Kleinkindalter sind CMD-Symptome selten anzutreffen, die Häufigkeit steigt aber bis zur Pubertät an. Frauen im gebärfähigen Alter sind wie bei anderen Schmerzerkrankungen deutlich häufiger betroffen als Männer. Nach den Wechseljahren lassen die Beschwerden häufig nach und im Alter ist die CMD relativ selten.
Symptomatik
Eine Vielzahl von Symptomen kann die Diagnose schwierig machen. Häufig schmerzen die Kiefermuskulatur oder die Kiefergelenke beim Kauen. Andere Symptome können sein:
Eingeschränkte Kieferöffnung
Knacken oder Reiben der Kiefergelenke beim Öffnen oder Schließen der Kiefer
Ausstrahlende Schmerzen in Mund, Gesicht, Kopf-, Nacken, Schulter oder Rücken, Hals-Wirbelsäulen-Schulterprobleme, eingeschränkte Kopfdrehung, Kopfschmerzen
Plötzlich auftretende Probleme mit der Passung der Zähne aufeinander.
Es können aber auch unangenehme Ohrenschmerzen ein Symptom sein.
Pathogenese
Da in den meisten Fällen die Ursachen unklar sind, wird eine multifaktorielle Genese vermutet. Prädisponierende, auslösende und unterhaltende Faktoren umfassen biologische, psychische und soziale Elemente. Anbei sind einige davon aufgelistet, wobei sich immer neue Aspekte in Klinik und Forschung ergeben werden:
• Genetik
• Hormone
• Entwicklungsstörungen der Kiefer
• Haltungsstörungen
• Emotionaler Stress
• Frühere Schmerzerfahrungen
• Hypervigilanz durch Sympathikusaktivierung
• Makrotrauma durch Unfälle
• Mikrotrauma durch Störungen der Bisslage
• Zähneknirschen
• Schlafstörungen, z. B. beim Obstruktiven Schlafapnoe-Syndrom
• Reduzierung der Aktivität des Deszendierenden Inhibitorischen Nozizeptiven Systems
• Depression
• Posttraumatische Belastungsstörung
• Zahnfehlstellung
• Zahnextraktion
Diagnose
Zur Diagnose der CMD wird aktuell folgende Vorgehensweise empfohlen:
Ein ausführliches Arztgespräch mit Einsatz standardisierter Fragebögen.
Eine somatische Untersuchung von Kieferöffnung, Kaumuskulatur und Kiefergelenken (Funktionsstatus).
Eine Röntgenaufnahme des gesamten Kiefers (Panoramaschichtaufnahme) zum Ausschluss zahnärztlicher und kieferchirurgischer Krankheitsursachen.
Einer oder mehrere schmerzpsychologische Filterfragebogen zur Früherkennung von psychosozialen Beeinträchtigungen.
Bei komplexen Krankheitsbildern können aufwändige apparative, radiologische oder psychologische Verfahren in Diagnostik und Therapie Anwendung finden sowie andere Fachrichtungen hinzugezogen werden.
Aufgrund einer Vielzahl von Schmerzursachen im Kopfbereich ist bei unklarer Diagnose eine fachübergreifende Diagnostik sinnvoll. Auszuschließen sind Erkrankungen aus den verschiedensten medizinischen Fachgebieten und eine intensive konsiliarische Beurteilung ist dann unerlässlich.
Therapie
Grundgedanke bei der Behandlung von CMD ist eine schonende und reversible Vorgehensweise. Dabei werden wissenschaftlich anerkannte Therapiekonzepte je nach Schweregrad eingesetzt und individuell auf den Patienten abgestimmt.
Eine Aufklärung des Patienten über die Krankheitszusammenhänge und eine korrekte Diagnosestellung ist der erste und wichtigste Schritt für eine positive Beeinflussung des Krankheitsgeschehens. Kiefergelenkknacken führte im Untersuchungszeitraum nach einer Studie mit 454 Patienten nicht zu Schmerzen im Kiefergelenk.
Hinweise zur Selbstbehandlung, wie weiche Nahrung, Dehnübungen, Wärme- oder Kälteanwendungen, Entspannungsübungen oder Stressmanagement, können helfen.
Eine Okklusionsschiene (Aufbissbehelf) wird vom Zahnarzt häufig eingesetzt und kann zu einer Entspannung der Kau- und Kopfmuskulatur sowie zu einer Entlastung der Kiefergelenke führen. Allerdings ist der Nutzen der Okklusionsschiene bei einer CMD-Behandlung wissenschaftlich nicht belegt. Je nach Studie wird die Wirksamkeit belegt oder widerlegt.
Physiotherapie können muskuläre Verspannungen reduzieren.
Manchmal sind schmerzlindernde, entzündungshemmende, muskelrelaxierende oder schlaffördernde Medikamente notwendig um eine Chronifizierung des Schmerzgeschehens Einhalt zu gebieten und die Lebensqualität zu verbessern.
Transkutane Elektrische Nervenstimulation (TENS) können durch eine Entspannung der Muskulatur und eine Reduktion der Schmerzen helfen.
Es wird diskutiert ob Triggerpunkt-Infiltrationen der Muskulatur mit verschiedenen Substanzen sinnvoll sind und dauerhaft Linderung bringen können.
Umfangreiche Zahnsanierungen, kieferorthopädische oder chirurgische Maßnahmen sollten nur bei strengster Indikation Anwendung finden.